Was bedeutet es, besessen zu sein? Background-Special – Part 5

Hüter, willkommen zurück. Setz dich doch, ich bin gleich bei dir. Die Geschichte von Oryx und der Schar sollte dich eigentlich eine Weile beschäftigen. Aber ich bin erfreut zu sehen, dass du erneut den Weg in meine bescheidenen Hallen gefunden hast, um die Wunder und Mythen unserer Zeit zu studieren. Heute habe ich etwas ganz besonderes für dich vorbereitet. Erinnerst du dich noch an die Macht, welche Oryx von den Götterwürmern bekommen hatte, um die Ökumene in die Knie zu zwingen? Was, glaubst du, ist sie? Wir wissen, dass es eine finstere Fähigkeit der Dunkelheit ist. Aber was genau tut sie und wofür ist sie da? Warum benutzt Oryx eine so furchteinflößende Waffe gegen seine Feinde? Nur um sie zu vernichten glaubst du? Hüter, studieren heißt verstehen, Erkenntnis erlangen. Lausche meinen Worten und verstehe die Bedeutung der Kraft des Königs der Besessenen.

Ich denke, du hast den Vorgang schon mehrere Male beobachtet, nicht wahr, Hüter? Stelle dir einen Leibeigenen vor, in seinem ganzen Sein und seiner Art. Ein Leibeigener frist, jagt, rennt, kreischt und kratzt. Er will sich entwickeln und dazu braucht er Nahrung. Die Schar in Reinform, wenn du so willst. Doch was passiert nun, wenn Oryx seinen Mantel über ihm ausbreitet und ihn zu einem Besessenen macht? Zunächst einmal sehen wir einen Spalt, der die Wirklichkeit ein Stück breit aufreißt und einen Sog erzeugt, der das betroffene Wesen packt und fortzieht. Soweit zur Beobachtung. Aber wohin werden diese armen Seelen gezogen? In eine andere Dimension? In eine Art unsichtbares Kraftfeld? Das ist eine wichtige Frage, der wir uns irgendwann widmen müssen.

Wenn die Kreaturen dann erneut erscheinen, sind sie verändert. Dir muss ich das nicht erzählen, Hüter. Du hast am eigenen Leib erfahren, wie die Besessenen erscheinen und wozu sie in der Lage sind. Doch was ist aus ihnen geworden? Wie ist es dazu gekommen? Fest steht, ein Besessener ist nicht mehr die Lebensform, die er war, bevor er in die andere Welt gezogen wurde. Er wirkt ausgehölt, willenslos und doch zielstrebig. Damit meine ich nicht den Drang, dir den Kopf abzureißen, Hüter. In all ihrer Wildheit findet sich unter den Besessenen doch so etwas wie Planung und Koordination. Eris verwendete einst das Wort: Endwiedergabe.

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Ein bisschen zu kryptisch, wenn du mich fragst. Es würde bedeuten die Evolution in ihrer Vollkommenheit. Ich fände es eher traurig, wenn diese leuchtenden Fackeln das Ende einer Lebensform darstellen sollten. Fakt ist, die Besessenen leuchten in einem hellen, beinahe mattblauen Licht, doch unter diesem Licht brodelt eine Dunkelheit. Faules Licht, Hüter. Wir sprechen hier von korrumpiertem Licht. Was passiert auf der anderen Seite? Werden jene, die hineingezogen wurden, durch faulige Kopien ersetzt? Oder ist das Brodeln des Lichts, welches wir um ihre Körper beobachten können, nur eine Hülle? Wie ein Panzer? Und warum werden nicht alle denkenden Lebewesen in ein Loch gezogen und verändert? Ist Oryx Fähigkeit derart beschränkt? Kann er nicht alle gleichzeitig hinfort ziehen? Warum gibt es keine besessenen Hüter? Hast du schon welche gesehen? Was würde passieren, wenn ein Hüter entführt werden würde? Wäre dies überhaupt möglich? Ja, das Studium des Universums ist eben ein wenig komplizierter, als zu wissen, ob ein Scharfschützengewehr mit weniger Munition und effektiver Reichweite besser ist, als eines mit 6 Schuss und dem Rückstoß eine Schrotflinte. Ab und zu musst du auch um die Ecke denken können, Hüter, merken und aufschreiben.

Also, was wissen wir? Die Macht, denkende Lebewesen in Besessene zu verwandeln, ist keine Schar-Magie, ganz sicher nicht. Wir wissen zwar, dass die Kreaturen nach Übertritt auf die andere Seite in etwas anderes verwandelt werden, aber nicht, ob sie immer noch sie selbst sind, nur unter einer neuen Logik geboren. Oder aber nichts weiter als eine Leere Hülle ohne Sinn und Verstand. Wenn wir das Wesen der Besessenen verstehen wollen, müssen wir uns also genauer mit ihnen befassen. Nun, zum Glück besitze ich rein zufällig eine kleine Sammlung von Aufzeichnungen eines unbekannten Autoren. Sei doch so gut und hol sie mir dort hinten aus dem Regal, Hüter. Oben links, das schwere mit dem saphirblauen Bund.

Das Beispiel eines Leibeigenen wird als erstes beschrieben. Ein Leibeigener ist ein entbehrliches Wesen, die unterste Form der Schar. Sind sie besessen, sollen sie ihre Schwächen ablegen, zu etwas Neuem erstarken, ihrer Natur treu bleiben und sich inmitten dessen weiterentwickeln.

„Es gibt ein Messer für dich“, spricht der Autor. „Hebe es auf, benutze es“.

Siehst du nun klarer Hüter? Nicht? Dann sollten wir weiterlesen. Hier ein Beispiel des Akolythen. Ein Akolyth strebt nach der Ritterschaft, er will sich irgendwann zu etwas höherem erheben. Doch er ist allein und schwach, sucht stehts Deckung, um sich vor dem Feuer des Feindes zu schützen. Ein Besessener zu sein, lässt ihn stark werden, seine Schwächen ablegen. Hast du schon mal einen besessenen Akolythen gesehen, der Deckung sucht, Hüter? Der Autor schreibt:

„Es gibt ein Messer für dich, hebe es auf, rufe es herbei.“

Ich denke, nun kommen wir der Sache näher, was es heißt, ein Besessener zu sein, findest du nicht, Hüter? Lausche weiter, der bessene Ritter zeigt dir was ich meine. Ein Ritter ist Stärke und Kraft, sein Schwert scheidet die Dinge der Wirklichkeit. Doch unter Feuer zieht er sich hinter einem komprimierten, dunklen Wall zurück. Er hat Angst, bricht jeglichen Angriff ab und hält seine Position, anstatt die des Feindes einzunehmen. Als Besessener soll er diese übertriebene Vorsicht in eine Waffe verwandeln. Der Autor schreibt:

„Es gibt ein Messer für dich, verstecke dich nicht mehr. Nimm deine neue Form an.“

Die Hexe, sie darf nie allein sein. Nie entblößt von den Scharen, die sie gebährt und auf ihre Feinde loslässt.

„Es gibt ein Messer für dich, lass die Horde herausströhmen. Nimm deine neue Form an.“

Ein Psion. Im Gegensatz zu seinen großen Kabal-Brüdern ist er selten. Das sollte sich ändern. Er sollte zahlreich werden, sich spalten, legion werden.

„Es gibt ein Messer für dich, schneide dich ab.“

Der Phallanx, sein Schild. Es ist dazu gedacht, Gewalt zu blocken, doch dieses Schild ist es auch, das dem Phallanx seine Beweglichkeit nimmt. Ihn zwingt abzuwarten. Als Besessener kann er Konterangriffe starten, bevor seine Feinde zuschlagen. Seine Schwäche, sein Schild, muss eine Waffe sein, zu einer Stärke werden. Verstehst du, Hüter? Die Liste ist noch viel größer, doch ich werde dich nicht mit allen Einzelheiten quälen, versprochen. Hast du meinen Vortrag über das Wesen der Schar noch leicht in deinem Kopf, solltest du dich daran erinnern, wofür die Dunkelheit steht, wonach sie trachtet. Pure Stärke, das Ausmerzen alles Schwachen. Der Erhebung der Kraft und die Transformation von Schwäche in Stärke. Nichts anderes tut die faulige Magie der Besessenen. Sie nimmt die natürlichen Schwächen und verwandelt sie in etwas brauchbares, etwas kraftvolles. Der Autor verwendet immer wieder den Satz: „Es gibt ein Messer für dich, nehme deine neue Form an.“ Was lernst du daraus, Hüter? Das Messer, was ist damit gemeint?

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Überlege nur, könnte es nicht auch heißen: Es gibt Verwendung für dich, einen Platz im Universum. Es gibt etwas, das dich stark machen wird. Nimm deine neue Form an, werde zu etwas besserem.

Egal, was es ist, auf der anderen Seite merzt irgendetwas oder jemand die natürlichen Schwächen einer Kreatur aus und verpasst ihr eine neue Existenz. Und diese Existenz ist verlockend. Ich habe von Hütern gehört, die sich von ihnen beeinflussen lassen, den Besessenen. Auch sie sehen sie als eine Art Reinform der Stärke an, gereinigt. Ein gefährlicher Gedanke, Hüter. Der Mensch ist, trotz seinem Hang zum Licht, ebenso leicht beinflussbar, wie jeder andere. Oryx mag vergehen können, doch seine Wahrheit wabert noch immer über die Welten des Universums. Zu tief sind die Wunden geschlagen, die er dem Inneren der Wirklichkeit beigefügt hat. Du weißt nun, wofür Oryx seine Macht gebrauchte. Stell es dir als den puren Willen der Dunkelheit vor, Schwäche unter Stärke zu zermalmen und wenn dies nicht funktionierte, dann doch sie wenigstens in etwas Starkes zu verwandeln. Durch das Verderben des Lichts werden Lebewesen in etwas dunkleres verwandelt, in negatives Licht getaucht und als Propheten der Wahrheit zurückgeschickt.

Die einzige Logik der Dunkelheit, es offenbart ein Stück ihres Wesens, ihre Motive vielleicht, doch was ist sie? Lass mich eine Weile darüber nachdenken, Hüter. Und auch du gehe nun. Es ist spät und ich bin sicher, du hast nun besseres zu tun. Wir werden uns wieder sprechen, garantiert.

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